5. Dehnungsrheologie
5.1. Herkunft und Definition der Dehnviskosität
5.2. Dehnungsmessungen

5.1. Herkunft und Definition der Dehnviskosität

Ein großer Teil der bereits behandelten Abschnitte beschäftigte sich mit dem Materialverhalten unter Scherbeanspruchung. Wie bereits im Kap.1 dargestellt, existieren mit der Dehnung bzw. Kompression weitere Beanspruchungsarten, die Gegenstand dieses Kapitels sind. Derartige Beanspruchungen sind in praktischen Prozessen nicht selten. So findet man sie z.B. beim Spinnen, beim Folienblasen, bei der Durchströmung von Düsen und porösen Körpern oder beim Zerfall von Flüssigkeitsstrahlen und Tropfen. In Analogie zur Scherrheologie können einige Größen definiert werden. Der Widerstand drückt sich hier nicht als Schubspannung, sondern als Zugspannung s aus. Statt der Scherung bzw. Schergeschwindigkeit spricht man von Dehnung und Dehngeschwindigkeit. Die Scherviskosität wird durch die Dehnviskosität ersetzt. Deren Definitionen sollen am Beispiel eines auf Zug belasteten Stabes (Abb.5.1.1) gezeigt werden. Die Anwendung der Zugkraft F führt hier zu einer Längenänderung des Materials Dl. Bezogen auf die Gesamtlänge ergibt sich die sogenannte Dehnung und deren Ableitung nach der Zeit liefert die Dehngeschwindigkeit.

Abb. 5.1.1 - Prinzipielle Darstellung zur Dehnung eines Stabes

Für einen elastischen Festkörper liefert der Quotient aus Zugspanung und Dehnung den sogenannten Elastizitätsmodul E. Er ist größer als der die Scherung beschreibende Schubmodul. Dies liegt vor allem daran, dass die Dehnung in der einen Richtung aus der Volumenerhaltung eine Kompression des Stabes in die beiden anderen Raumrichtungen verlangt. Diese dreifache Belastung zeigt sich in einem 3mal höheren Elastizitätsmodul im Vergleich zum Schubmodul. Das Verhältnis der Kompression in die beiden Querrichtungen zur Dehnung in Zugrichtung definiert die sogenannte Querkontraktions- oder auch POISSON-Zahl :

Für einen idealen Festkörper gilt µ=0,5. Viele reale Stoffe zeigen jedoch Werte kleiner 0,5. Dies weist darauf hin, dass es bei der Dehnung zu einer Verkleinerung des Gesamtvolumens kommt. Eine extremes Beispiel ist hier Kork, der unter Dehnung fast keine Einschnürungseffekte im Querschnitt zeigt. Werte für die POISSON-Zahl findet man beispielsweise in Pahl et.al. "Praktische Rheologie der Kunststoffe und Elastomere", VDI-Verlag, 1995.

Ähnlich wie bei der Scherung zeigt ein viskoses Fluid einen Widerstand gegen Dehndeformationen, der proportional zur Dehngeschwindigkeit ist. Der Proportionalitätsfaktor wird entsprechend Dehnviskosität genannt :

Auch bei viskoser Dehnung wird in den Querrichtungen eine Kompression erhalten. Entsprechend ist auch hier die Dehnviskosität größer als die Scherviskosität. Nach TROUTON gilt für ein ideal viskoses Fluid ebenfalls der Faktor 3 zwischen beiden Größen (Abb.5.1.2).

Abb. 5.1.2 - Verlauf von Dehn- und Scherviskosität als Funktion der Deformationsgeschwindigkeiten

Insbesondere bei nicht-newtonschen Materialien gilt dieser Zusammenhang nur bei sehr kleinen Deformationsgeschwindigkeiten. Während bei strukturviskosen Materialien die Scherviskosität permanent mit der Scherrate sinkt, so steigt die Dehnviskosität zunächst an (Extensional thickening) um später auch abzufallen. Durch den zwischenzeitlichen Anstieg liegen dann aber Dehn- und Scherviskosität deutlich weiter auseinander.

Ein Teil der Dehnung kann bei Fluiden zurückgestellt werden, ist also reversibel. Dieser Anteil wird als reversible Dehnung bezeichnet. Nur der restliche Anteil an der gemessenen Dehnung ist tatsächlich viskos.

Bei dem oben dargestellten Stabversuch wird das Material in Richtung einer Achse gedehnt. Man spricht daher auch von einer einachsigen Dehnung. Im Unterschied dazu existieren weitere, sogenannte mehrachsige Beanspruchungsarten, die Gegenstand des Kapitels über Messgeräte sein werden.

5.2. Dehnungsmessungen

Wie bereits dargestellt, spielt das Dehnverhalten von Materialien bei diversen Verarbeitungsprozessen eine Rolle. Um so wichtiger ist deren Charakterisierung durch geeignete Messungen. Die Schwierigkeit bei Dehnungsmessungen besteht vor allem darin, andere Deformationseffekte wie z.B. die Scherung und Schwerkraft auszuschalten. Dennoch haben sich einige Messprinzipien etabliert. Auf einige wird im Folgenden eingegangen.

a) Messungen mit einachsiger Dehnung

Der in Abb.5.1.1 dargestellte Stabversuch entspricht einer einachsigen Dehnung. In Messungen kann eine solche Dehnung auf verschiedene Art und Weise realisiert werden. Abb.5.2.1 zeigt einige der möglichen Konfigurationen.

Abb.5.2.1 - Prinzipieller Darstellung einiger Dehnrheometer mit einachsiger Dehnung

Der links dargestellte rohrlose Siphon (FANO-Strömung) ist sicher einer der einfachsten Konstruktionen, der auch für dünnflüssige Medien anwendbar ist. Durch ein Rohr des Radius R wird hier Flüssigkeit aus einem Behälter abgesaugt (Unterdruck pu). Durch Absenken des Flüssigkeitsspiegels im Behälter oder durch Anheben des Rohres wird der Abstand von Rohr und Flüssigkeitsoberfläche immer weiter erhöht. Ab einer bestimmten Höhe h wird dann der Strahl abreißen. Diese Höhe ist ein Maß für die Dehnviskosität. Es gilt :

Die abgeleitete Dehnviskosität ist nur ein scheinbarer Wert, da Trägheits-,Oberflächenspannungs- und Schwerkrafteffekte vernachlässigt werden. Ein in der Art ähnlicher Versuch ist die Rheotens-Messung, die die Verhältnisse bei Faser-Spinnen besonders gut abbilden kann.

Für höherviskose, feststoffähnliche Materialien bieten sich andere Versuchsaufbauten an. Eine davon ist das Dehnrheometer nach MEISSNER (Rotating Clamp). Hier schwimmt eine stabähnliche Probe auf einem temperierten Ölbad. Die Probe ist zwischen zwei Zahnradpaaren eingespannt, die das Material auseinanderziehen. Die dafür notwendige Kraft sowie die Drehzahlen werden erfaßt und zur Ermittlung der Dehnviskosität genutzt. Es gilt :

Wir aus der Probe im gedehnten Zustand eine Stück der Länge l1 herausgeschnitten, so stellt sich die Probe nach der Entspannung auf eine Länge l2 zurück. Aus dieser Zurückgestellten Länge kann nun auf die reversible Dehnung er = l2/l1 geschlossen werden.

Ein anderes Dehnrheometer wurde von MÜNSTEDT (Moving clamp) entwickelt. Hier ist eine stabförmige Probe senkrecht in einem Ölbad aufgehangen. Das Öl soll dabei die Probe temperieren als auch die Wirkung der Schwerkraft aufheben. Auf der einen Seite ist die Probe an einem Kraftaufnehmer befestigt, während auf der anderen Seite ein Metallband über eine Winde die Dehnung der Probe erzeugt. Für die Ableitung der Zugspannung gilt die Gleichung des MEISSNER-Rheometers. Die Dehngeschwindigkeit ergibt sich aus Quotient von Zuggeschwindigkeit und Probenlänge.

b) Messungen mit zweiachsiger Dehnung

Bei der einachsigen Dehnung wird das Material in einer Richtung gedehnt und in die beiden anderen Richtungen komprimiert. Die zweiachsige Dehnung ist gerade der umgekehrte Fall. Hier wird ein Material einachsig komprimiert und auf diese Weise in den beiden anderen Raumrichtungen gedehnt. Eine einachsige Kompression lässt sich leicht in Form einer Quetschströmung (Squeeze Flow, siehe Abb.) realisieren. Hierbei wird eine Probe zwischen 2 zylindrische Stempel eingespannt. Diese bewegen sich nach und nach aufeinander zu und quetschen dadurch das Material durch den vorhandenen Spalt. Dabei wird es gedehnt und bei Wandhaftung auch geschert. Um letzteres zu verhindern, wird durch ein Gleitmittel die Wandhaftung aufgehoben und so die reine zweiachsige Dehnung realisiert. Die Spannung ergibt sich als Quotient von angewandter Kraft bezogen auf die Stempelfläche (bei voll gefülltem Spalt). Die Dehnrate ergibt sich bei einer Stempelgeschwindigkeit vs und eine Spalthöhe h zu :

Für eine Messung mit konsanter Dehnrate ist also die Stempelgeschwindigkeit entsprechend der Spalthöhe anzupassen. Der Quotient aus Schubspannung und Dehnrate liefert die biaxiale Dehnviskosität. Sie ist nicht mit der für einachsige Dehnungen ermittelten Viskosität vergleichbar. Nur im idealen Bereich bei sehr kleinen Dehnraten wird die biaxiale Viskosität doppelt so groß wie die Dehnviskosität bei einachsiger Dehnung.

c) Andere Dehnrheometer

Neben den bereits besprochenen Rheometern existieren einige Dehnrheometer, die andere Beanspruchungsarten realisieren bzw. eine der o.g. Beanspruchungen auf andere Art und Weise erzeugen. Diese sollen hier nur genannt werden. Für ausführliche Informationen sei das Kapitel 7 in C.W.Macosco "Rheology- Principles, Measurements and Applications" empfohlen. Zur den hier nicht weiter behandelten Dehnströmungs- bzw. Rheometerformen zählen die ebene Dehnung ( Schichtdehnungen ), Kollabierende Blasen (Erzeugt ein einachsige Dehnung), Staupunktströmungen in gegenüberliegenden Düsen (Opposite-Nozzles) oder in der Four-Roll-Apparatur sowie Eintrittsströmungen in Verengungen. Eine Zusammenstellung der Arbeitsgleichung sowie eine Gegenüberstellung mit Vor- und Nachteilen enthält die o.g. Literaturquelle.